Im Blick des Wolfes (Mein Jakobsweg)

Geschichten-Mein Jakobsweg

Im Blick des Wolfes (Mein Jakobsweg)

Im Blick des Wolfes (Mein Jakobsweg durch Spanien)

Verfasser: André Stickel

Der Camino del Norte führte mich an diesem Tag weit abseits der Dörfer, tief hinein in die Wildnis der spanischen Wälder. Es war einer jener Abschnitte des Jakobswegs, die eine fast meditative Stille mit sich brachten – nur das Rascheln der Blätter, das Knirschen meiner Schritte auf dem schmalen Pfad und hin und wieder das Zwitschern eines Vogels begleiteten mich.

Die Luft war kühl und frisch, und der Wald wirkte wie ein lebendiges Wesen, geheimnisvoll und wachsam. Ich fühlte mich klein und zugleich frei inmitten dieser uralten Bäume. Doch plötzlich änderte sich etwas.

Die Geräusche um mich herum verstummten. Kein Vogelruf, kein Insektensummen – nur noch das Klopfen meines eigenen Herzens war zu hören. Ich blieb stehen, die Sinne angespannt, ohne zu wissen, warum. Und dann sah ich ihn.

Aus dem Schatten der Bäume trat ein Tier hervor, das ich bisher nur von Bildern kannte: ein iberischer Wolf. Sein Fell schimmerte in Grau- und Brauntönen, seine gelben Augen fixierten mich mit einer Intensität, die mir den Atem raubte.

Mein erster Gedanke war Flucht. Doch meine Beine gehorchten nicht. Es war, als hätte der Wald mich in diesem Moment festgehalten, um der Begegnung nicht zu entkommen. Der Wolf kam näher, leise und geschmeidig, als sei er ein Teil des Waldes selbst.

Mir rann der Schweiß den Rücken hinunter, obwohl die Luft im Oktober recht kalt war. Meine Gedanken rasten: Sollte ich schreien? Mich langsam zurückziehen? Doch ich tat nichts. Ich stand da, wie zu einer Salzsäule erstarrt, und wartete.

Der Wolf blieb einen Meter vor mir stehen. Er hob die Nase und schnüffelte, als wolle er mich einschätzen. Seine Augen schienen direkt in meine Seele zu blicken. Für einen Moment fühlte ich mich wie ein Eindringling in seiner Welt – ein Wanderer, der die Stille der Natur störte.

Dann, ohne jede Hast, senkte er den Kopf und trottete weiter, zurück in den Schatten des Waldes. Es war, als hätte er beschlossen, dass ich keine Bedrohung darstellte.

Ich blieb noch lange stehen, unfähig, mich zu bewegen. Die Angst, die mich in diesem Moment gelähmt hatte, wich langsam einer tiefen Dankbarkeit. Ich hatte etwas erlebt, das nur wenige erleben dürfen: die pure, unverfälschte Begegnung mit der Wildnis.

Später, als ich an diesem Abend in einer kleinen Herberge saß und das Erlebte Revue passieren ließ, fragte ich mich, was der Wolf wohl in mir gesehen hatte. War es Furcht? Respekt? Oder einfach nur ein weiterer Wanderer, den er für unbedeutend hielt?

Wie auch immer die Antwort lautete, eines wusste ich: Dieser Moment würde mich auf meiner Pilgerreise begleiten. Der Wolf hatte mir gezeigt, wie klein ich im Angesicht der Natur war – und wie groß die Welt um mich herum.

Der Camino del Norte war nicht nur ein Pfad nach Santiago, sondern auch ein Weg zu mir selbst. Und dieser Tag im Wald, mit dem iberischen Wolf, war eine Lektion in Demut, die ich niemals vergessen werde.